Neue Subjektivität: Die literarische Strömung der 1970er Jahre
Die Neue Subjektivität ist eine literarische Strömung der 1970er Jahre. | Foto: william87/Getty Images
Die neue Subjektivität: Innerlichkeit statt Flower Power
Flower Power, Hippie-Bewegung und Schlaghosen sind typisch für die 70er Jahre des letzten Jahrtausends. Doch in der Literatur dieses Jahrzehnts ging es nicht um Love und Peace. Die Literatur der 1970er Jahre war geprägt von der Neuen Subjektivität. Wir erklären dir, warum diese literarische Strömung so subjektiv und was an ihr neu war.
Inhaltsverzeichnis
"Jeder Leser ist, wenn er liest, nur ein Leser seiner selbst." (Ingeborg Bachmann, Schriftstellerin)
Auf einen Blick: Neue Subjektivität
- Zeitraum: 1970er Jahre
- Einordnung: Gegenbewegung zur gesellschafts- und systemkritischen Literatur der 60er Jahre
- bedeutende Ereignisse: Bau der Mauer, Vietnamkrieg, atomare Aufrüstung
- Merkmale: Beschäftigung mit dem eigenen Ich
- Literatur: keine formalen Fesseln, Entwicklung der Frauenliteratur
- Vertreter /-innen: Christa Wolf, Elfriede Jelinek, Botho Strauß
Tipp
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Neue Subjektivität: Definition
Die Neue Subjektivität ist keine eigene Literaturepoche, sondern eine literarische Strömung in der deutschen Literatur der 1970er Jahre. Für sie wird oft auch die Bezeichnung Neue Innerlichkeit verwendet. Sie ist auf subjektive Wahrnehmungen und Empfindungen ausgerichtet und stellt das Private in den Vordergrund. Durch ihre Beschäftigung mit dem eigenen Ich ist die Neue Subjektivität eine Gegenbewegung zur gesellschafts- und systemkritischen Literatur der 60er Jahre.
Geprägt wurde der Begriff von Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki. In der Literaturwissenschaft wird die Neue Subjektivität als Tendenzwende und Rückkehr zum Ich beschrieben. Kritiker und Kritikerinnen lehnen die Neue Subjetivität als egozentrisch und narzisstisch ab.
Zeitgeschichtliche Einordnung
Gründe für die Fokussierung auf das Innere liegen vor allem im zeitgeschichtlichen Kontext der 1970er Jahre: Die Neue Subjektivität ist eine Reaktion auf die politisch motivierte Literatur sowie den politischen Aktionismus dieser Zeit.
Nach dem Wirtschaftswunder in den 1950er Jahren änderte sich in den 1960er Jahren das Leben in der Bundesrepublik: Inflation und Arbeitslosenzahlen stiegen, das Zechensterben begann und der Traum von einem vereinten Deutschland endete 1961 mit dem Bau der Mauer. Hinzu kamen zahlreiche politische Skandale und ab 1966 eine große Koalition aus CDU und SPD, mit der vor allem die Studierenden unzufrieden waren. Sie protestierten für Chancengleichheit, bessere Lernbedingungen und -inhalte, den Austausch von Dozierenden mit Nazi-Vergangenheit, das Ende des Vietnamkriegs sowie den Stopp der atomaren Aufrüstung. Als Reaktion auf die Proteste wurden 1968 die Notstandsgesetze erlassen. 1933 hatten solche Notstandsgesetze zum Ende der Weimarer Republik geführt und die Machtübernahme der Nazis ermöglicht. Folglich gab es in der Bevölkerung große Vorbehalte gegen diese Gesetze und es kam zu weiteren Demonstrationen. In den 70ern zersplitterte die Studierendenbewegung jedoch in verschiedene Strömungen. Eine davon war die Rote Armee Fraktion, kurz RAF, die mit ihren Terroranschlägen für Angst sorgte.
Merkmale der Neuen Subjektivität
Das Scheitern der 68-Bewegung und der linke Terrorismus führten in der Literatur zu einer Distanzierung vom politischen Geschehen. Individualität und Identität wurden zu zentralen Motiven. Typisch für die Neue Innerlichkeit ist ein subjektiver, privater Schreibstil. Die Autorinnen und Autoren verfassten gefühlsbetonte, oft autobiografische Texte, in denen sie eigene Gefühle, private Probleme oder das Erleben geschichtlicher Abläufe ausdrückten. Es ging ihnen nicht darum, die Literatur als ein politisches Instrument einzusetzen, wie es im Zuge der 68er-Bewegung geschah. Auch beschäftigten sie sich nicht länger mit der Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs, wie es für die deutsche Nachkriegsliteratur bis dahin typisch gewesen war. Vielmehr wollten sie zeigen, dass nicht Form, Sprache oder politische Gesinnung über die Qualität von Literatur entscheiden, sondern die intellektuelle und emotionale Echtheit des Erzählens.
Weitere Literaturepochen
- Barock (1600–1750)
- Aufklärung (1720–1800)
- Empfindsamkeit (1740–1790)
- Sturm und Drang (1765–1790)
- Weimarer Klassik (1786–1831)
- Romantik (1795–1835)
- Biedermeier (1815–1848)
- Vormärz (1815–1848)
- Junges Deutschland (1830–1835)
- Realismus (1848–1890)
- Naturalismus (1880–1900)
- Moderne (1880–1920)
- Impressionismus (1890–1920)
- Symbolismus (1890–1920)
- Expressionismus (1905–1925)
- Neue Sachlichkeit (1918–1933)
- Exilliteratur (1933–1945)
- Trümmerliteratur (1945–1950)
- Nachkriegsliteratur (1945–1990)
- Postmoderne Literatur (ca. 1989–2011)
- Gegenwartsliteratur (ab 1990)
Die Merkmale im Überblick:
- Individuelle Erfahrungen und Gefühle stehen im Vordergrund.
- autobiografisch
- Selbstreflexion
- Alltagssorgen
- Verwendung von Alltagssprache
- Einfachheit, Authentizität und Direktheit
Literatur der Neuen Subjektivität
Nicht nur die Eskalation der politisch motivierten Gewalt durch Studentenproteste und linken Terrorismus begründete die Entstehung der Neuen Innerlichkeit. Viele Autorinnen und Autoren lehnten es ab, Texte im Sinne einer bestimmten politischen Gesinnung zu schreiben. Der Schriftsteller und Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki sagte in diesem Zusammenhang, dass die radikale Politisierung nicht die Politik verändert, sondern die deutsche Literatur ruiniert habe.
Darüber hinaus wurde der Trend zur Neuen Innerlichkeit auch von schreibenden Frauen wie Elfriede Jelinek, Gabriele Wohmann, Karin Kiwus oder Ursula Krechel getragen, sodass man in dieser Zeit auch von der Entwicklung einer Frauenliteratur spricht. Sie hinterfragte das klassische Rollenverständnis und diskutierte das Selbstbild der Frau in einer von Männer dominierten Welt.
Lyrik
In der literarischen Gattung der Lyrik ging es der Neuen Subjektivität um persönliche Erfahrungen, die häufig in einen größeren gesellschaftlichen Kontext gestellt wurden. Eine elitäre Sprache lehnten die Autorinnen und Autoren der Neuen Innerlichkeit ab. Sie wollten kommunikative Gedichte schreiben, die dem Leser und der Leserin ein Mitlesen ermöglichten und einfach zu verstehen waren. Um authentisch zu sein, so die Meinung der Autorenschaft, dürfe es keine formalen Fesseln geben. Deswegen wurde die Sprache der Lyrik auch als "prosaisch" bezeichnet: Sie war einfach, direkt, arm an sprachlichen Bildern und hatte einen erzählenden Stil.
Diese Merkmale kannst du am Beispiel von Roman Ritters Gedicht "Das Bürofenster" aus dem Jahr 1978 deutlich erkennen:
Ich drehe mich am Schreibtisch um
und sehe durch das Fenster
ein paar Kastanienäste,
ein Stück Rasen mit Buschwerk
und den Stamm einer Linde.
Ich gehe zum Fenster
und sehe draußen die Linde,
die Äste leicht vom Wind bewegt,
den Rasen, der so grün ist,
dass man beinah lachen muss,
und die große Kastanie, durch deren Blätter
man in die Sonne sehen kann.
Dort drüben blüht ein Busch.
[...]
Wie du siehst, ist die Sprache hier leicht verständlich und wirkt, als würde das lyrische Ich etwas erzählen. Abgesehen von der Versform sind es vor allem die Zeilensprünge, die das Gedicht von erzählenden Texten unterscheiden (z.B. Vers 3 oder Vers 12). Das, worüber das lyrische Ich erzählt, beschränkt sich auf seine eigenen Wahrnehmungen. Die Ich-Zentriertheit wird hier außerdem durch den immer gleichen Strophenanfang ausgedrückt: "Ich". Es ist typisch für die Lyrik der Neuen Innerlichkeit, das lyrische Ich so deutlich hervorzuheben und dessen Wahrnehmungen ganz alltäglicher Situationen zu beschreiben. Klassisch lyrische Merkmale wie Reimschema, Metrum oder eine hohe Dichte an rhetorischen Mitteln werden abgelehnt.
Epik
Für viele Autorinnen und Autoren war ihr Schreibanlass die eigene Biografie. Aus diesem Grund entstanden zahlreiche autobiografische Romane und Erzählungen. Ein wichtiges episches Werk der Neuen Subjektivität ist die Erzählung "Lenz" von Peter Schneider aus dem Jahr 1973. Angelehnt an Georg Büchners Erzählfragment von 1839 schildert der Autor darin das Seelenleben des jungen intellektuellen Lenz nach der gescheiterten Studentenrevolte. Wegen seiner Selbstoffenbarung sorgte außerdem Karin Strucks autobiografischer Roman "Klassenliebe" (1973) für Aufsehen.
Dramatik
Das Drama spielte in der Neuen Subjektivität eine untergeordnete Rolle. Der wichtigste Dramatiker war Botho Strauß mit Werken wie "Trilogie des Wiedersehens" (1977) oder "Groß und klein" (1978). Botho Strauß ist noch heute einer der meistgespielten zeitgenössischen Dramatiker auf deutschen Bühnen.
Wichtige Autoren /-innen und Werke
Autor /-in | lebte von | bekannte Werke |
---|---|---|
Christa Wolf | 1929–2011 | "Nachdenken über Christa T." |
Gabriele Wohmann | 1923–2015 | "Paulinchen war allein zu Haus" |
Botho Strauß | geb. 1944 | "Die Widmung" oder "Der Park" |
Ulla Hahn | geb. 1945 | "Herz über Kopf" |
Elfriede Jelinek | geb. 1946 | "Die Liebhaberinnen" |
FAQ: Häufige Fragen zur Neuen Subjektivität
Die Neue Subjektivität im Überblick:
- Die Neue Subjektivität grenzt sich ab von der politischen Literatur um 1968.
- Typisch ist der Rückzug ins Private.
- Es geht um eigenen Gefühle und Erfahrungen.
- Die Literatur hat stark autobiografische Züge.
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