Lyrisches Ich: Was du wissen solltest

Elena Weber

Lyrisches Ich Schülerin liest Buch

Das lyrische Ich ist die fiktive Stimme in einem Gedicht. | Foto: YakobchukOlena/ Getty Images

Lyrisches Ich: ein wichtiges Merkmal von Gedichten

Keine Gedichtanalyse ohne lyrisches Ich: Wenn du in der Deutschklausur eine Interpretation schreiben musst, gibt es zahlreiche Aspekte, die du in deine Analyse einbauen solltest: das Reimschema, das Metrum oder die Kadenz sind nur einige typische Merkmale von Gedichten, die es zu benennen und interpretieren gilt. Ein weiteres Charakteristikum ist das lyrische Ich. Was es mit diesem typischen Lyrik Merkmal auf sich hat, erklären wir dir hier.

Definition: Was ist das lyrische Ich?

Das Wichtigste vorab: Das lyrische Ich ist nicht der/die Autor /-in. Das heißt, der/die Verfasser /-in des Gedichtes ist nicht identisch mit dem lyrischen Ich. Vielmehr ist das lyrische Ich der Sprecher des Gedichts. Der Begriff wurde 1910 erstmals von der Dichterin Margarete Susman verwendet, um eine deutliche Trennung zwischen Autor /-in und sprechender Distanz im Werk zu schaffen. Das lyrische Ich kommt nur in der literarischen Gattung der Lyrik vor, also nur in Gedichten und Balladen.

Nur in epischen Texten: die Erzählperspektive

Die Bezeichnung "lyrisches Ich" zeigt dir bereits, dass das lyrische Ich in lyrischen Texten vorkommt – und zwar ausschließlich dort. Begehe also nicht den Fehler, das lyrische Ich mit dem Erzähler gleichzusetzen. Ein Erzähler begegnet dir niemals in lyrischen Texten wie Gedichten, sondern nur in epischen Texten wie Novellen, Kurzgeschichten oder Romanen. Der Erzähler wird vom Autor oder der Autorin geschaffen, um den/die Leser /-in durch die Geschichte zu führen. Dabei kann er verschiedene Erzählperspektiven einnehmen, auch Erzählverhalten genannt. Unterscheiden kannst du zwischen auktorialem Erzähler, personalem Erzähler, Ich-Erzähler und neutralem Erzähler.

Gut zu wissen

Wie beim lyrischen Ich gilt: Auch der Erzähler ist nicht identisch mit dem/der Autor /-in.

Merkmale des lyrischen Ichs

Das lyrische Ich ist also ein vom Autor / von der Autorin erfundener fiktiver Sprecher. Dieser kann in unterschiedlicher Form auftreten:

  1. als erkennbare Figur, die durch das Wort "Ich" deutlich zu erkennen ist. Dies bezeichnet man als explizites lyrisches Ich.
  2. als unbekannte Stimme, die nicht näher bezeichnet wird. Sie nennt man impliziertes lyrisches Ich.

Du kannst das lyrische Ich meist an dem Personalpronomen "Ich" sowie dem dazugehörigen Possessivpronomen "mein" erkennen. Es kann aber auch in der ersten Person Plural, also in der Wir-Form, sprechen. Auch ist es möglich, dass es sich an ein fiktives Du wendet. Gibt es kein "Ich" im Gedicht, verwendet man den Ausdruck "lyrischer Sprecher".

Die Funktion des lyrischen Ichs

In deiner Gedichtanalyse geht es nicht nur darum, festzustellen, dass es in dem Gedicht ein lyrisches Ich gibt. Es geht auch darum, Aussagen über seine Funktion zu treffen und diese in den Gesamtzusammenhang des Gedichtes einzuordnen. Dabei können dir folgende Fragen helfen:

  • Gibt es ein Ich, das spricht, oder handelt es sich um einen lyrischen Sprecher?
  • Spricht das lyrische Ich jemanden an?
  • Äußert das lyrische Ich Gedanken und Gefühle oder ist es eher beschreibend und neutral?
  • Welche Gefühle hat das lyrische Ich?
  • Welche Position nimmt das lyrische Ich ein?

Diese Fragen ermöglichen es dir, nähere Aussagen über das lyrische Ich zu treffen. Betrachte es dabei immer als Teil des Gedichts und ordne es in den Gesamtzusammenhang ein, auch indem du historische Aspekte wie die Literaturepoche berücksichtigst, in der der lyrische Text entstanden ist. Das lyrische Ich in Barock-Gedichten hat ganz andere Ansichten und Gefühle als das lyrische Ich in Expressionismus-Gedichten

Das lyrische Ich erkennen: Beispiele 

Wie du an den folgenden Beispielen sehen kannst, ist es ziemlich leicht, das lyrische Ich in einem Gedicht zu erkennen.

Beispiel 1: "Heimweh, wonach?", Mascha Kaléko (wahrscheinlich 1938)

Wenn ich „Heimweh" sage, sag ich „Traum". 
Denn die alte Heimat gibt es kaum. 
Wenn ich Heimweh sage, mein ich viel: 
Was uns lange drückte im Exil. 
Fremde sind wir nun im Heimatort. 
Nur das „Weh", es blieb. 
Das „Heim" ist fort.

Dieses Gedicht der Exilliteratur, verfasst von der jüdischen Dichterin Mascha Kaléko, thematisiert die Sehnsucht nach ihrer Heimat Deutschland, das sie wegen des NS-Regimes verlassen hat. Das Personalpronomen "Ich" ist bereits das zweite Wort des Gedichts. Es ist somit offensichtlich, dass es sich hier um ein lyrisches Ich handelt, das sehr persönliche Einblicke in sein Schicksal gibt (das in diesem Fall autobiografische Züge der Verfasserin aufweist).

Beispiel 2: "Die schlesischen Weber", Heinrich Heine (1844)

Im düstern Auge keine Träne 
Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne: 
Deutschland, wir weben dein Leichentuch, 
Wir weben hinein den dreifachen Fluch - 
Wir weben, wir weben!

Das Gedicht "Die schlesischen Weber" von Heinrich Heine ist ein anschauliches Beispiel für die politische Literatur des Vormärz (1815–1848). In dem sogenannten Weberlied prangert Heine die durch die Industrialisierung entstandenen sozialen Missstände an. In der ersten Strophe erkennst du bereits, dass Heine das Gedicht aus der Sicht der von den Autoritäten ausgebeuteten Weber verfasst hat und aus der "Wir"-Perspektive schreibt. Dadurch erzielt er eine noch stärkere Wirkung, als wenn er das lyrische Ich in der Ich-Form sprechen lassen würde, denn das "Wir" steht für Gemeinsamkeit, für eine ganze gesellschaftliche Schicht, die gegen Ungerechtigkeiten rebelliert und durch dieses Gedicht eine Stimme bekommt.

Beispiel 3: "Der Knabe im Moor", Annette von Droste-Hülshoff (1842)

Fest hält die Fibel das zitternde Kind 
Und rennt, als ob man es jage; 
Hohl über die Fläche sauset der Wind – 
Was raschelt drüben am Hage? 
Das ist der gespenstische Gräberknecht, 
Der dem Meister die besten Torfe verzecht; 
Hu, hu, es bricht wie ein irres Rind! 
Hinducket das Knäblein zage

In dem Gedicht "Der Knabe im Moor" von Annette von Droste-Hülshoff geht es um einen Jungen, der im Dunkeln durchs Moor wandert und dabei immer größere Angst vor den ihm erscheinenden Geistergestalten bekommt. Wie du an der zweiten Strophe sehr deutlich sehen kannst, verwendet die Autorin hier nicht das lyrische Ich, sondern einen lyrischen Sprecher, was du an der Verwendung der dritten Person Singular erkennen kannst (z.B. "Fest hält die Fibel das zitternde Kind" oder "Knäblein"). Dadurch macht von Droste-Hülshoff den Leser /-innen stetig bewusst, dass es ein Kind ist, das durch das dunkle Moor geht. Die Situation wird so noch gespenstischer und die Angst des Jungen viel greifbarer, als wenn sie die Ich-Form gewählt hätte.

Beispiel 4: "Abendlied", Johann Wolfgang von Goethe (1780)

Über allen Gipfeln 
Ist Ruh, 
In allen Wipfeln 
Spürest du 
Kaum einen Hauch; 
Die Vögelein schweigen im Walde. 
Warte nur, balde 
Ruhest du auch

In diesem kurzen Gedicht mit dem Titel "Abendlied" verwendet Goethe ein impliziertes lyrisches Ich, also ein lyrisches Ich, das nicht näher bezeichnet wird. Du weißt nicht, ob es sich hier um einen Mann oder eine Frau handelt, welche soziale Stellung es einnimmt oder wie es fühlt. Stattdessen erscheint es als eine unbekannte Stimme, die den/die Leser /-in des Gedichtes direkt anspricht. Das erkennst du an dem Personalpronomen "du". Dadurch wirkt das lyrische Ich weise, ein wenig über den Dingen stehend.

FAQ: Häufige Fragen zum lyrischen Ich

Was versteht das lyrische Ich unter einem Ich?

Das "Ich" des lyrischen Ichs darfst du nicht mit dem Verfasser oder der Verfasserin des Gedichtes gleichsetzen. Das lyrische Ich ist der Sprecher, den der/die Autor /-in wählt, um dem Gedicht eine Stimme zu geben. Sie sind nicht identisch.

Welche Arten von lyrischem Ich gibt es?

Es gibt das implizierte und das explizite lyrische Ich. Ersteres ist nicht näher bestimmt und wirkt eher als eine unbekannte Stimme. Das explizite Ich ist als Person erkennbar sowie am Personalpronomen "Ich".

Wie kann man das lyrische Ich noch nennen?

Das lyrische Ich kannst du vor allem am Personalpronomen "Ich" sowie den entsprechenden Possessivpronomen. Es kann auch in der ersten Person Plural, also in der Wir-Form, sprechen. Verwendet es die Er/Sie-Form, spricht man eher von einem lyrischen Sprecher.

Lyrisches Ich: ein Überblick

  • Das lyrische Ich ist ein Merkmal von Gedichten und begegnet dir ausschließlich in lyrischen Texten.
  • Beachte, dass das lyrische Ich nicht identisch mit dem/der Verfasser /-in des Gedichtes ist. 
  • Das lyrische Ich ist meist an dem Personalpronomen "Ich" zu erkennen.
  • Es kann auch in der Wir-Form sprechen.
  • Ist das Gedicht in der Er/Sie-Form verfasst, spricht man vom lyrischen Sprecher. Er wirkt meist wie ein neutraler Beobachter.

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Neben dem lyrische Ich gibt es noch zahlreiche andere Merkmale, auf die du bei deiner Gedichtanalyse achten musst. Wir haben dir die wichitgsten zusammengestellt.

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