Was ist ein Enjambement?
Das Enjambement ist ein wichtiges Stilmittel in Gedichten. | Foto: finwal / Getty Images
Das Enjambement: halb so schwer
Es gibt rhetorische Mittel, die ziemlich leicht zu erkennen sind. Die Anapher gehört dazu, ebenso die Alliteration oder auch die Personifikation. Etwas schwieriger wird es dann schon mit der Metapher. Und bei manchen Stilmitteln in Deutsch klingt allein die Bezeichnung schon total kompliziert. Das Enjambement ist ein Beispiel dafür. Was sich hinter dieser sprachlichen Figur verbirgt, wie du sie analysieren kannst und warum sie letztlich nur halb so schwer ist, wie ihr Name vermuten lässt – all das erfährst du hier.
Inhaltsverzeichnis
Definition: Das ist ein Enjambement
Klären wir doch erst einmal den Begriff: Anders als bei vielen anderen sprachlichen Mitteln leitet sich die Bezeichnung “Enjambement” nicht aus dem Griechischen oder dem Lateinischen, sondern aus dem Französischen ab. Das französische Verb “enjamber” bedeutet “überspringen” – und das beschreibt genau, was ein Enjambement macht: Es überspringt mit einem Satz die Versgrenze. Der Satz oder die Sinneinheit endet also nicht innerhalb des Verses, sondern läuft über zwei oder mehrere Verse weiter. Aus diesem Grund wird das Enjambement auch als Zeilensprung bezeichnet.
Damit dieser Zeilensprung funktioniert, ist es auf Verse angewiesen. Verse sind die einzelnen Zeilen eines Gedichts. Das Enjambement ist somit ein Stilmittel, das dir in Gedichten begegnet.
Zeilensprünge erkennen
Um einen Zeilensprung zu erkennen, musst du dir anschauen, welche syntaktischen Einheiten in dem Gedicht vorliegen. Unter einer syntaktischen Einheit versteht man ein sprachliches Gefüge, das nur zusammen einen Sinn ergibt. Dabei kann es sich um einen ganzen Satz handeln, aber auch nur um eine Sinneinheit, die du normalerweise nicht trennen würdest, zum Beispiel “die schwarze Katze”. Diese syntaktische Einheit wird auch als Syntagma bezeichnet. Dabei handelt es sich um eine Kette von Elementen in einer vorliegenden Äußerung.
Arten von Enjambements
Du kannst verschiedene Arten von Enjambements unterscheiden:
- schwaches Enjambement
- starkes Enjambement
- Strophenenjambement
- morphologisches Enjambement
- Hakenstil
Was die einzelnen Arten ausmacht, erklären wir dir im Folgenden. Solltest du das in deiner nächsten Deutschklausur nicht mehr präsent haben oder sollte es dir generell schwer fallen, die verschiedenen Formen auseinanderzuhalten, konzentriere dich einfach darauf, den Zeilensprung im Allgemeinen zu benennen. Ein Enjambement zu erkennen, ist meist völlig ausreichend, eine Unterscheidung nicht unbedingt nötig.
Schwaches Enjambement
Ein schwaches Enjambement liegt vor, wenn zwar der Satz über mehrere Verse verteilt, nicht aber die syntaktischen Einheiten getrennt werden. Ein Beispiel dafür ist Friedrich Schillers Gedicht “Das Mädchen aus der Fremde”:
In einem Tal bei armen Hirten
Erschien mit jedem jungen Jahr,
Sobald die ersten Lerchen schwirrten,
Ein Mädchen, schön und wunderbar.
Der vollständige Satz lautet: In einem Tal bei armen Hirten, erschien mit jedem jungen Jahr, sobald die ersten Lerchen schwirrten, ein Mädchen, schön und wunderbar.” Dieser Satz wird auf insgesamt vier Verse verteilt, syntaktische Einheiten werden jedoch nicht unterbrochen. Aus diesem Grund wird es auch als glattes Enjambement bezeichnet, denn es gibt einen glatten Übergang.
Gut zu wissen
Das schwache Enjambement wird manchmal auch zum Zeilenstil gezählt. Das liegt daran, dass die Verse in Gedichten grundsätzlich recht kurz sind. Der Dichter oder die Dichterin muss längere Sätze deshalb automatisch auf mehrere Verse verteilen. Fallen Vers- und Satzende zusammen, spricht man vom Zeilenstil.
Starkes Enjambement
Anders als beim schwachen Enjambement werden beim starken Zeilensprung syntaktische Einheiten unterbrochen. Das klingt auch wieder komplizierter als es eigentlich ist: Wird eine syntaktische Einheit unterbrochen, ergibt sie keinen Sinn mehr, etwa weil zusammengehörende Wortgruppen wie Subjekt und Prädikat oder Artikel und Nomen auseinandergerissen werden. Liegt ein starkes Enjambement vor, erkennst du es daran, dass der einzelne Vers ohne den anderen keinen Sinn ergibt. Auch beim Lesen macht sich das bemerkbar. Du liest hier nach dem Versende direkt und meist auch automatisch weiter, um die Sinneinheit zusammenzufügen.
Ein Beispiel für ein starkes Enjambement findest du Rainer Maria Rilkes Gedicht „Nur wer die Leier schon hob” von 1922:
Nur wer mit Toten vom Mohn
aß, von dem ihren,
wird nicht den leisesten Ton
wieder verlieren.
Hier wird deutlich eine Sinneinheit unterbrochen: Normalerweise gehören “Nur wer mit den Toten vom Mohn aß” und “wird nicht den leisesten Ton wieder verlieren” sinngemäß zusammen. Das Verb “aß” sowie das “wieder verlieren” wird aber vom Rest getrennt und in den nächsten Vers geschoben – ein starkes Enjambement. Du kannst auch die Bezeichnung “hartes Enjambement” finden, weil der Zeilensprung einen harten Bruch in der syntaktischen Einheit darstellt.
Strophenenjambement
Das Strophenenjambement führt einen Satz oder eine syntaktische Einheit über die Grenze einer Strophe hinaus fort und durchbricht somit die inhaltliche Einteilung, die Strophen einem Gedicht verleihen. Ein Beispiel dafür finden wir in “Tränen in schwerer Krankheit” von Andreas Gryphius:
Was bilden wir uns ein, was wünschen wir zu haben?
Itzt sind wir hoch und groß, und morgen schon vergraben;
Itzt Blumen, morgen Kot. Wir sind ein Wind, ein Schaum,
Ein Nebel und ein Bach, ein Reif, ein Tau, ein Schatten;
Itzt was und morgen nichts. Und was sind unsre Taten
Als ein mit herber Angst durchmischter Traum.
Hier siehst du, dass die Aufzählung, die im letzten Vers der ersten Strophe begonnen wird (“Wir sind ein Wind, ein Schaum”,) in der zweiten mit “Ein Neben und ein Bach, ein Reif, ein Tau, ein Schatten;” fortgesetzt wird. Der Vers springt also in die nächste Strophe, es handelt sich um ein Strophenenjambement.
In diesem Fall helfen dir die Satzzeichen dabei, das Enjambement zu erkennen. Das Komma am Ende der ersten Strophe weist bereits darauf hin, dass die Aufzählung hier noch nicht zu Ende ist. Das Semikolon im ersten Vers der zweiten Strophe zeigt: Hier ist die Sinneinheit zu Ende. Satzzeichen können also eine Hilfe dabei sein, Enjambements zu erkennen.
Morphologisches Enjambement
Enjambements können nicht nur Sätze oder syntaktische Einheiten unterbrechen. Sie können auch einzelne Wörter trennen. Ist das der Fall, liegt ein morphologisches Enjambement vor.
Ein gängiges Beispiel für ein morphologisches Enjambement findest du in “Max und Moritz” von Wilhelm Busch:
Jeder weiß, was so ein Mai-
käfer für ein Vogel sei.
Hier wird das Wort “Maikäfer” getrennt und erst im folgenden Vers fortgeführt.
Gut zu wissen
Eine morphologische Einheit ist ein Wort. Ein Wort besteht aus verschiedenen Elementen, zum Beispiel Silben. Zusammen bilden sie eine morphologische Einheit.
Hakenstil
Als Hakenstil bezeichnest du eine Folge von mehreren Enjambements. Er ist das Gegenteil vom Zeilenstil.
Ein Beispiel ist das Gedicht “Liebeslied” von Rainer Maria Rilke:
Wie soll ich meine Seele halten, daß
sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie
hinheben über dich zu andern Dingen?
Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas
Verlorenem im Dunkel unterbringen
an einer fremden stillen Stelle, die
nicht weiterschwingt, wenn deine Tiefen schwingen.
An den Fettungen siehst du, dass nahezu in jedem Vers ein Zeilensprung vorliegt.
Arten von Enjambements auf einen Blick
Art | Erklärung |
---|---|
schwaches/glattes Enjambement | Satz über mehrere Verse verteilt, aber keine Trenunng syntaktischer Einheiten |
starkes/hartes Enjambement | Unterbrechung syntaktischer Einheiten |
Strophenenjambement | Zeilensprung über das Strophenende hinaus |
morphologisches Enjambement | ein Wort wird getrennt |
Hakenstil | Folge mehrerer Enjambements |
Wirkung des Enjambements
In der Theorie weißt du jetzt, was ein Enjambement ist und welche verschiedenen Formen dieses Stilmittels du unterscheiden kannst. Für deine nächste Gedichtanalyse ist aber noch ein weiterer Punkt wichtig: die Wirkung des Enjambements. Denn jedes sprachliche Mittel erfüllt eine bestimmte Funktion. Diese bereits im Vorfeld zu kennen, erleichtert dir deine Interpretation, da du die allgemeine Wirkung dann nur noch auf das Gedicht übertragen und in dessen Zusammenhang erklären musst.
Der Zeilensprung kann…
- … die Struktur aufbrechen und so den gängigen Aufbau und den klassischen Zeilenstil von Gedichten durchbrechen.
- … eine Verbindung erzeugen und Inhalte miteinander verknüpfen.
- … für einen flüssigen Lesefluss sorgen, da du beim Lesen am Zeilenende nicht inne hältst.
- … auch genau das Gegenteil bewirken: Vor allem starke und morphologische Enjambements können den Lesefluss durch den unerwarteten Zeilensprung stören und dadurch etwas besonders betonen.
Darüber hinaus kann das Enjambement eingesetzt werden, um eine Bedeutung zu transportieren, die genau zum Inhalt des Gedichtes passt. Das kann zum Beispiel eine bestimmte Atmosphäre oder Stimmung sein, wie du zum Beispiel am Barock-Gedicht “Tränen in schwerer Krankheit” von Andreas Gryphius sehen kannst. Das Sonett aus dem Jahr 1640 handelt von der Vergänglichkeit des Lebens. In der ersten Strophe heißt es:
Mir ist, ich weiß nicht wie, ich seufze für und für.
Ich weine Tag und Nacht, ich sitz in tausend Schmerzen;
Und tausend fürcht‘ ich noch; die Kraft in meinem Herzen
Verschwindt, der Geist verschmacht‘, die Hände sinken mir.
Das Enjambement liegt hier in Vers vier und fünf (fett markiert). Die syntaktische Einheit besteht aus “die Kraft in meinem Herzen verschwindt”. Sie zieht sich über zwei Verse, es liegt also ein Zeilensprung vor. Dieser vermittelt hier den Eindruck von Müdigkeit und Erschöpfung, denn durch das Enjambement entsteht eine kurze Sprechpause, die das Seufzen imitieren soll, von dem das lyrische Ich im ersten Vers spricht.
Ein Enjambement interpretieren
Das Beispiel zeigt bereits, dass es bei der Interpretation eines Enjambements darum geht, dieses Stilmittel in den Kontext des Gedichtes zu setzen und zu zeigen, wie es zu dessen Inhalt passt. Da du die allgemeine Wirkungsweise eines Enjambements kennst, geht es konkret also immer um die Frage: Was bedeutet diese Wirkung für dieses Gedicht? Dazu schaust du dir den Inhalt, aber auch den zeitgeschichtlichen Kontext an, in dem das Gedicht entstanden ist. Dieser sagt über unser Beispiel von oben, “Tränen in schwerer Krankheit”, nämlich sehr viel aus:
Das Gedicht entstand in der Literaturepoche des Barock. Diese Epoche war geprägt vom Dreißigjährigen Krieg, der von 1618 bis 1648 andauerte und in den Menschen genau dieses Gefühl von Müdigkeit und Erschöpfung hervorrief, wie die im Gedicht geschilderte Krankheit beim lyrischen Ich. Die Menschen hatten das Gefühl, der Krieg würde niemals enden, er zehrte sie aus und sorgte für einen Lebensüberdruss. Typische Barock-Merkmale, die sich daraus ergeben, sind das Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit und die Gegenwärtigkeit des eigenen Todes. Gryphius beschreibt hier also nicht bloß die Vergänglichkeit des menschlichen Seins. Vor dem Hintergrund des Krieges kann die Krankheit hier auch als Symbol für den Krieg gelesen werden.
FAQ: Häufige Fragen
Das Enjambement im Überblick
- Das Enjambement gehört zu den sprachlichen Stilmitteln.
- Es kommt vor allem in Gedichten vor.
- Das Enjambement wird auch als Zeilensprung bezeichnet, weil Sätze oder syntaktische Einheiten nicht in einem Vers beendet, sondern über die Vers- oder Strophengrenze hinaus weitergehen.
- Es gibt verschiedene Arten von Enjambements.
- Enjambements durchbrechen den Zeilenstil und sorgen so dafür, dass Inhalte miteinander verknüpft oder bestimmte Aspekte besonders betont werden. Außerdem wirkt es sich auf den Lesefluss und somit auch auf den Rhythmus des Gedichtes aus.
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