Wir müssen reden: Über Liebe und Bisexualität
Verliebt in ein anderes Mädchen: Na, und? | Foto: Stocksnap/Greg Raines
Dich lieb ich, dich lieb ich nicht
Erwachsenwerden ist meistens schwierig. Naja, eigentlich immer. Das erste Kribbeln im Bauch, das nach und nach zu einem riesigen, hyperaktiven Schmetterlingsschwarm heranwächst, der genug Energie hat, um all deine anderen Körperfunktionen lahmzulegen. Der erste Kuss, der erste Sex – und Eltern, mit denen man über absolut Nichts von alldem reden will.
Noch komplizierter wird es, wenn du selbst nicht so genau weißt, wen du eigentlich küssen willst. Wenn die Schmetterlinge um die vermeintlich falsche Person flattern, zum Beispiel um eine des gleichen Geschlechts. Wie merkt man, ob man bisexuell ist? Oder homosexuell? Und muss man sich da überhaupt entscheiden?
Die Autorin Anne Freytag wollte mit "Den Mund voll ungesagter Dinge" einen Roman über die "Wer bin ich?"-Fragen des Erwachsenwerdens schreiben. Klar, dass es dabei vor allem um die Liebe geht – diesmal allerdings um eine, über die wir viel zu selten sprechen und die viele junge Menschen deshalb vor ein scheinbar unlösbares Problem stellt: Sie einfach zuzulassen.
"Das Thema ist so wichtig, weil es eigentlich kein Thema sein sollte"
UNICUM: Warum gerade das Thema Bisexualität?
Anne Freytag: Als mir klar wurde, in welche Richtung sich die Geschichte entwickelte, stand ich vor der Frage, ob ich über die Liebe und die Anziehungskraft zwischen zwei Mädchen schreiben möchte. Ob ich es mir zutraue und ob ich das kann. Die Antwort war ganz einfach: Einen Versuch ist es wert. Ich denke, dass manche Bücher nötig sind, weil sie einen Teil der Realität abbilden, der nicht (genug) abgebildet wird. Das Thema ist so wichtig, weil es eigentlich kein Thema sein sollte. Aber solange es eins ist, sollte man es auch ansprechen.
"Wenn man aus dem Raster fällt, wird man anecken"
Gibt man "Bin ich bi?" in die Google-Suche ein, wird man von Persönlichkeitstests überhäuft. Meinen Sie, das ist die richtige Herangehensweise an dieses Thema?
Ich bin keine Expertin, aber ich glaube, ganz tief in sich drin weiß man es. Man will es vielleicht nicht, aber man weiß es. Diese Tests sind in meinen Augen eher wie eine Art Legitimierung. Eine Verwissenschaftlichung eines Themas, das mit Wissenschaft im Grunde nichts zu tun hat. Aber wenn es jemandem auf seinem Weg hilft, finde ich es gut. Alles ist gut, das einem hilft. Die einen lesen darüber, die anderen denken darüber nach und wieder andere probieren es aus. Ich glaube, es gibt viele richtige Wege, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen.
Denken Sie, dass bi- oder homosexuelle Mädchen es schwerer haben als Jungs?
Wenn ich ehrlich bin, denke ich eher, dass es für Jungs noch schwieriger ist. Aber ich glaube auch, dass dieses Thema schon mehr besprochen wurde und daher mehr in den Köpfen angekommen ist. Es ist in jedem Fall nicht einfach, "anders" zu sein. Und es hängt stark davon ab, in was für einem Umfeld man sich bewegt. Sind die Menschen um einen herum tolerant und offen? Konservativ und altmodisch? Oder vielleicht sogar feindlich gegenüber gleichgeschlechtlicher Liebe eingestellt?
Wenn man aus dem Raster fällt, wird man anecken. Das ist nicht leicht, weil der Mensch von Natur aus Teil eines Ganzen sein will, Teil einer Gruppe. Man will dazugehören, vor allem, wenn man noch jung ist. Ich stelle es mir schwierig vor, mit Gefühlen allein zu sein, die man selbst nicht versteht, um die man nicht gebeten hat und die man vielleicht auch nicht (wahr)haben will. Es ist schwierig, wenn man niemanden hat, dem man sich anvertrauen kann. Ich glaube, dabei ist es ganz egal, um welches Geschlecht es sich handelt.
"Das Leben ist kein andauernder Beliebtheitswettbewerb"
Warum ist unsere Gesellschaft in dieser Hinsicht immer noch so verstaubt? Was können wir alle gemeinsam ändern?
Das hat viel mit Ängsten zu tun. Mit Ängsten vor Veränderung und vor Dingen, von denen man nichts oder nur wenig weiß. Wir haben ein bestimmtes Bild vermittelt bekommen und daran halten wir fest. Und wir geben es weiter. Kinder spielen "Mutter, Vater, Kind", weil Familie hier so funktioniert. Wir lernen aus Schulbüchern, in denen Eltern so gut wie nie geschieden sind, Geschwister sich nicht streiten, der Vater das Geld verdient, es keine Behinderten gibt und Jungs sich in Mädchen und Mädchen sich in Jungs verlieben. Das ist kein Spiegel der Realität, es ist ein Auszug. Ein Auszug, der für einige stimmt und für andere nicht.
Angst ist ein starker Motivator. Das Altbekannte gibt einem ein vertrautes und gutes Gefühl. Ich glaube, vor allem Eltern haben oft Angst um ihre Kinder, weil sie nur das "Beste" für sie wollen. Und das Beste ist es, wenn sie "normal" sind, geschätzt werden, gute Chancen haben, nicht angefeindet oder geschnitten werden.
Ich glaube, auf einer Skala von hetero- bis homosexuell verteilen sich die Vorlieben der meisten Menschen kreuz und quer. Manche sind eindeutig das eine oder das andere, andere sind irgendwo dazwischen. Manche leben ihre Fantasien aus, andere nicht. Wenn wir anfangen würden, weniger schwarz weiß zu denken, gäbe es viel Raum für sehr viele Farben.
Darum geht es in "Den Mund voll ungesagter Dinge":
Sophie ist anders als andere Mädchen. Mit ihren 17 Jahren hat sie schon mit diversen Jungs geschlafen, etwas gefühlt hat sie dabei noch nie. Keine Liebe, keine Lust. Sophie ist schön, aber trotzdem ist sie die Verschlossene, die alle anderen irgendwie komisch finden.
Als sie kurz vor dem Abitur mit ihrem Vater von Hamburg zu dessen neuer Freundin und ihren beiden kleinen Söhnen nach München ziehen muss, hat sie sich bereits damit abgefunden, einsam zu sterben – bis sie auf Alex trifft: Das Nachbarsmädchen mit dem ansteckenden Lachen und der kleinen Lücke zwischen den Zähnen.
Plötzlich lernt Sophie eine neue Version von sich selbst kennen: Eine, die fröhlich sein kann, sich öffnet, lacht, fühlt. Alles könnte so schön und einfach sein – wenn Sophie nur den Mut dazu hätte, es endlich zuzulassen.
"Es gibt für jeden den 'richtigen' Menschen"
Was möchten Sie Mädchen und Jungen mit auf den Weg geben, die aus Angst vor Stigmatisierung und Mobbing nicht zu ihrer Sexualität stehen oder sie unterdrücken?
Dass ich überzeugt davon bin, dass es für jeden die "richtigen" Menschen gibt. Echte Freunde. Eine Familie, die man sich aussucht. Und dass alles eine Entwicklung ist. Vielleicht sind sie mit fünfzehn noch nicht dazu bereit, zu ihrer Sexualität zu stehen. Vielleicht sind sie es erst mit zwanzig. Oder mit fünfundzwanzig. Oder erst mit dreißig. Ich glaube, man tut es, wenn man selbst damit klarkommt. Wenn man weiß, dass man so viel mehr ist, als seine Sexualität. Es gibt nicht nur einen perfekten Zeitpunkt.
Macht das Internet es einfacher, die eigene Sexualität zu entdecken? Kann es helfen, z.B. in entsprechenden Foren Rat zu suchen?
Hm, das ist eine schwierige Frage. Ich glaube nicht, dass das Internet es per se einfacher macht. Das, was dort als Sexualität gezeigt wird, hat oft nicht mehr viel mit dem zu tun, was die meisten Menschen in der Realität erleben. Aber ich glaube durchaus, dass das Internet es erleichtert, andere Leute zu finden, die in ähnlichen Situationen sind. Man kann anonym nachfragen. Man kann sich austauschen. Man kann sich gegenseitig helfen.
Das gilt übrigens nicht nur für das Thema Sexualität, sondern für alle Themen. Für ähnliche Interessen. Für Fragen, die man sich sonst nicht zu stellen traut. Es ist wie bei allem: Je nachdem, wie man das Internet nutzt, ist es entweder gut oder schlecht. Ich selbst habe ein paar meiner besten Freunde im Internet gefunden. Wie bereits gesagt: Ich glaube, es gibt für jeden die "richtigen" Menschen. Und einige davon findet man vielleicht im Internet.
"Anders zu sein ist schwieriger, aber vielleicht ist es auch bunter"
Viele junge Leute fürchten sich davor, wie Freunde und Familie auf ihr Outing reagieren könnten. Wieso sollten sie sich von dieser Angst nicht entmutigen lassen?
Weil wir nicht wissen, wie viele Leben wir haben – und wenn es nur eins sein sollte, sollte man dann nicht aus den Vollen schöpfen? Sollte man sich nicht mit Menschen umgeben, die einen wirklich mögen und lieben wie man ist und nicht so, wie man vorgibt zu sein? Schuldet man sich selbst nicht die Wahrheit? Und ist es nicht viel wichtiger, glücklich zu sein, als zu gefallen? Letzten Endes müssen wir selbst entscheiden, wie wir leben wollen. Wenn wir es nicht tun, sind nicht die anderen schuld, sondern wir selbst.
Ich glaube, Erwachsenwerden bedeutet, sich zu entscheiden und zu seinen Entscheidungen zu stehen – Verantwortung zu übernehmen. Wenn sich jemand von dem, was wir fühlen, vor den Kopf gestoßen fühlt oder unser Wert davon abhängt, welche sexuelle Einstellung wir haben, ist das dann wirklich jemand, den wir in unserem Leben haben wollen? Jemand, der uns bereichert? Oder doch eher jemand, der uns bremst? Anders zu sein ist vielleicht schwieriger, aber vielleicht ist es auch schöner. Vielleicht ist es bunter. Und vielleicht macht es uns freier. Nicht jeder ist für den Schwarm bestimmt. Manche von uns schwimmen lieber alleine. Oder in kleinen Gruppen. Oder eben gegen den Strom.
Muss ich mich denn überhaupt outen? Kann es nicht vielleicht sogar helfen, sich erst einmal heimlich auszuprobieren?
Für mich gibt es einen Unterscheid zwischen etwas heimlich ausprobieren und sich und seine Gefühle dauerhaft zu verstecken. Wenn Menschen damit glücklich sind, spricht nichts dagegen, wenn sie es sind, dann schon. Das muss jeder für sich selbst wissen.
Ich denke nur, dass man im Hinterkopf behalten sollte, dass es IMMER Leute geben wird, die einen nicht mögen. Da kann man noch so nett und heterosexuell sein. Das Leben ist kein andauernder Beliebtheitswettbewerb und es gibt unendlich viele Gründe, nicht gemocht zu werden. Da ist es mir persönlich lieber, man mag mein echtes Ich nicht. Damit komme ich zurecht.
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